Wer sind die Donauschwaben?
von Ingomar Senz

Als nach dem Sieg der kaiserlichen Truppen am Kahlenberg 1683 gegen die Türken und der nachfolgenden Eroberung Ofens und Pests der gesamte Donauraum „habsburgisch“ wurde, bestand die Notwendigkeit, ein riesiges, aber verwüstetes und nur sehr dünn besiedeltes Gebiet an mitteleuropäische Zivilisationsverhältnisse anzupassen.
Zunächst galt es, die neu eroberten Gebiete durch die sog. Militärgrenze abzuschirmen. In einem von Kroatien bis Siebenbürgen reichenden Grenzwall wurden meist serbische und kroatische Wehrbauern angesiedelt, in den Städten, Sitzen der kaiserlichen Zivil- und Militärverwaltung, ließen sich aber bereits viele deutsche Handwerker nieder.
Als zweiter Schritt erfolgte die eigentliche Ansiedlungsaktion. Kaiserliche Werber machten v. a. im Südwesten des Reiches die in Patenten zusammengefassten Siedlungsbedingungen bekannt: sechs oder zehn Jahre Steuerfreiheit, Aufhebung der Leibeigenschaft, Bereitstellung der notwendigen Arbeitsgeräte, ein eigenes Haus sowie Grund und Boden als Eigenbesitz. Die Siedlungswilligen sammelten sich in Ulm, fuhren von hier mit den „Ulmer Schachteln“ oder „Kelheimer Plätten“ die Donau hinab, wurden in Wien von der Kais. Hofkammer registriert und unter deren Betreuung vor allem im Banat oder in der Batschka angesiedelt. Viele Kolonisten ließen sich von privaten Grundherren anwerben und brachten deren Güter im ungarischen Mittelgebirgsgebiet, in der „Schwäbischen Türkei“ oder im Raum Sathmar wieder in die Höhe.
Die Ansiedlung vollzog sich in vier Hauptschüben: unter Kaiser Leopold 1. gegen Ende des 17. Jahrhunderts, 1722-27 unter Karl VI., 1763-73 unter Maria Theresia sowie 1782-87 unter Joseph II., der als erster auch Protestanten die Auswanderung genehmigte. Insgesamt gründeten 150 000 deutsche Kolonisten eine neue Existenz in „Hungarn“.
Der Eigenbesitz von zumeist ganzen (=37 Joch) und halben (=21 J.) Sessionen ermöglichte den Siedlungsbauern auf lange Sicht – zumal Robot und andere Auflagen erträglich waren – eine dynamische wirtschaftliche Weiterentwicklung. Zunächst mussten sie jedoch einen harten Kampf mit der Natur ausfechten. Der Spruch „Die ersten fanden den Tod, die zweiten die Not und die dritten erst das Brot“ bringt diese Tatsache deutlich zum Ausdruck. Krankheiten, Seuchen, feindliche Überfälle und Entbehrungen rafften in der ersten Generation Tausende hinweg.
Erst die nachfolgende Generation vermochte in zähem Ringen mit der Natur die sumpfigen, überschwemmten und verödeten Landstriche in knochenharter Arbeit und unter Anwendung sinnvoller Arbeitsmethoden in Kulturland umzuwandeln. Hieraus ergaben sich ein besonders enges Zusammenleben mit der Natur (Natursymbiose) und eine zunächst notwendige, später freiwillig geübte Selbstbeschränkung des Lebens auf das, was die Umwelt bietet und eigene Arbeit ermöglicht (Überlebensautarkie). Dies waren Eigenschaften, die die Donauschwaben vielfach bis zum Ende ihrer Geschichte prägten.
Ergebnis ihrer Aufbau- und Kulturarbeit war ein Ackerland, das zu den fruchtbarsten in Europa zählte und dessen Erträge nach Aussagen von Fachleuten zu den qualitativ besten der Welt gehörten (Wei¬zen, Hanf), ein hervorragender Viehstand, eine blühende und differenzierte Obst-, Wein- und Gemüsekultur sowie in ganz Südosteuropa konkurrenzlose Ziegelei- und Mühlenbetriebe.
Saubere und gepflegte Dörfer wuchsen allenthalben buchstäblich aus dem Boden. Mit ihren jedes Jahr mehrmals frisch geweißten, stilistisch vom Barock beeinflussten Giebelfronten boten diese Längs- und Querhäuser mit ihren charakteristischen Toreinfahrten und Laubengängen eine wahre Augenweide. Das nach Planvorhaben der Hofkammer sich entwickelnde schwäbische Großdorf wies in der Regel einen schachbrettförmigen Grundriss auf, variierte diese Grundform jedoch in Anpassung an Landschaft und beson-dere örtliche Umstände. Die Spannung zwischen geplanter und individueller Gestaltung ließ Hausbauformen und Siedlungstypen entstehen, die einen überschaubaren, geordneten und sinnvollen, auf Gemeinschaft hin angelegten, aber individuelle Freiheiten er-möglichenden Lebensablauf sicherten.
Weniger günstig war die politische Situation der Kolonisten. Ein kaiserlicher Schutz für sie wurde nach dem Abflauen der Türken-kriege angesichts der sich nun ausweitenden Macht privater Grund-herren, der Komitatsverwaltung und des ungarischen Nationalismus immer schwieriger. Ihr politisches Bewusstsein war „reichisch ge-prägt, also personal auf den Kaiser als Reichs-Repräsentanten bezogen, d. h. man ordnete sich einer als qualifiziert anerkannten Auto-ri¬tät unter, ja setzte sein Schicksal auf diese, was Vertrauen und Gehorsam ein-, aber genauso kritisches Bewusstsein und selbständi-ges politisches Handeln ausschloss.
Diese Haltung führte bereits in der alten Heimat, verstärkt durch selbstherrliche und willkürliche „ Machtdemonstrationen“ der Du-odezfürsten, zur Ausprägung von „unpolitischen Menschen“, die ihr Schicksal, der eigenen Ohnmacht bewusst, hinnahmen. Noch stärker prägte sich diese Eigenschaft in der neuen Heimat in fremdvölkischer Umgebung aus. Der ungarische Adelsstaat verhinderte überdies eine der allgemeinen Zeitströmung entsprechende Entwicklung: Massen an Bauern und Arbeitern, angeführt von einem selbst¬bewussten Bürgertum, die Anteil am Staat verlangten und seine Grundordnung mittragen wollen, waren in Ungarn unvorstellbar.
Ein solches Bürgertum, das die politische Führung hätte überneh-men können, stand den unpolitischen Schwaben durchaus zur Verfügung. Die Städte Kernungarns erhielten während der Türkenkrie-ge und danach einen kräftigen Siedlerstrom aus dem gesamten Reichsgebiet, bekamen aber auch Zuwachs durch die kaiserliche Zivil- und Militärverwaltung. Um 1800 stellten die Städte mindes-tens die Hälfte der 300 000 deutschungarischen Einwohner.
Obwohl das städtische Deutschtum in Ungarn fast ausschließlich den bürgerlichen Stand repräsentierte und in wirtschaftlicher wie kultureller Hinsicht eine dominierende Rolle spielte, gelang es ihm nicht, sich als eigener Stand im Ständestaat Ungarn durchzusetzen. Wohl aus Mangel an Standesbewusstsein schloss es sich dem ungarischen Adel an, der politisch wie gesellschaftlich in Ungarn füh-renden Schicht. Eine Verbindung zum oft in unmittelbarer Nachbarschaft lebenden schwäbischen Bauerntum erstrebte es jedoch nicht. Während des „Reformzeitalters bis zur Revolution von 1848“ stand das deutschungarische Bürgertum in der Front gegen den „Beamten- und Polizeistaat“ Metternichs und kämpfte für die Sache der ungarischen Freiheit; zwischen 1849 und 1860 distanzierte es sich vom reaktionären Charakter des Neoabsolutismus und nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 identifizierte es sich weitestgehend mit der ungarischen Staatsidee und förderte ihren weiteren Ausbau. Da jetzt die ungarischen Regierungen von der Bevölkerung ein klares Bekenntnis zum magyarischen Nationalstaat erwarteten, setzte unter den ungarischen Nationalitäten eine planmäßige Magyarisierung ein. Die willigsten Opfer und eifrigsten Förderer fand sie in den Angehörigen des deutschen Bürgertums.
Von der für die politische Führung qualifizierten Schicht im Stich gelassen, fand das donauschwäbische Bauerntum gegen die Jahrhundertwende keinen Anwalt mehr für seine eigenen Anliegen. Zudem beeinflussten eine durch billige US-Importe hervorgerufene Agrarkrise, hohen Steuerlasten und starke Verschuldung sowie das Fehlen eines deutschen Genossenschaftswesens die wirtschaftliche Entwicklung ungün¬stig. Dadurch geriet die schwäbische Gesell-chaft mit ihren Mittel- und Unterschichten für längere Zeit an den Rand des wirtschaftlichen Ruins.
In der Regel nicht bereit, sich mit diesem unerträglichen Los abzufinden, suchte ein Teil sein Heil in der Auswanderung, der größere Teil setzte seine Hoffnung auf eine deutsche nationale Bewegung.
Dafür hatte auch die gesellschaftliche Differenzierung des schwäbischen Bauerntums während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gesorgt. Dank ihrer verhältnismäßig geschlossenen Ansiedlung, ihrer technischen Begabung und eines beispiellosen Arbeitseinsat-zes gelang ihm die ständige Ausweitung seines Besitzstandes: zunächst als Erweiterung des ursprünglichen Gemeindehotters durch Kultivierung, dann durch Einkauf in die Hotter benachbarter andersnationaler Gemeinden, schließlich durch Anlage von Tochter-siedlungen in Slawonien-Syrmien. Als sich dieser Wirtschaftsdynamik kein weiterer Freiraum mehr bot, suchte man den eigenen Besitz durch die Beschränkung der Kinderzahl zu sichern oder sah sich gezwungen, nach Übersee auszuwandern.
Doch diese Entwicklung lief nicht ohne Spannungen ab. Während bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts der landwirtschaftliche Betrieb von der eigenen Familie versorgt wurde und das schwäbische Dorf daher keine soziale Schichtung kannte, brachte die folgende Pro-duktionsausweitung eine deutliche Auffächerung der ländlichen Gesellschaft: Sie zerfiel nicht nur in Groß-, Mittel- und Kleinbau-ern, sondern bildeten sich daneben die fast gleichstarken Schichten der Handwerker und Arbeiter aus. Da aber Grundbesitz nach wie vor als höchster Wertfaktor galt, fühlten sich die Großbauern immer deutlicher als Herrenschicht, die sich von den anderen Gruppen streng abgrenzte und Anschluss an die magyarisch geprägte „bessere“ Gesellschaft suchte. Das Mittelbauerntum und die Handwerker-schaft, von Großbauern und Bürgern als Leitgruppen im Stich ge-lassen, besannen sich auf ihre traditionellen „deutschen“ Tugenden und bezogen aus ihnen ihr Selbstwertgefühl. Die besitzlosen „Massen“ der landwirtschaftlichen und gewerblichen Arbeiter blieben in der Abgeschlossenheit der schwäbischen Dörfer vom natürlichen Magyarisierungssog verschont und tendierten in ihrer Opposition zur Regierung, zum Teil zur sozialdemokratischen Bewegung, teilweise setzten sie aber auch auf die nationale Karte.
Eine deutsche nationale Bewegung formierte sich nach der Jahr-hundertwende um einige deutschbewusste Männer aus den städti-schen Zentren Südungarns, die über Wirtschaftsorganisationen, kulturelle und politische Aktivitäten zu einer breiten Sammlungs-bewegung unter der schwäbischen Bevölkerung ansetzten. Trotz augenscheinlicher Erfolge und einer eigenen Parteigründung erreichten sie bis zum Weltkriegsbeginn ihr Ziel noch nicht. Der antidemokratisch strukturierte ungarische Adelsstaat und die systema-tisch betriebene Magyarisierung verhinderten die Ausformung eines einheitlichen Gruppenbewusstseins unter den Donauschwaben.
Auch die Entwicklung in den sog. Nachfolgestaaten Ungarn, Jugoslawien und Rumänien, auf die das Donauschwabentum nach dem Weltkrieg aufgeteilt wurde, brachten noch keine entscheidende Ver-besserung seiner Lage als nationaler Minderheit. Zwar entwickelte sich mehr oder weniger stark überall ein Gruppenbewusstsein und gelang mit Hilfe einer relativ breiten Führungsschicht der Aufbau nationaler Selbsthilfeorganisationen. Aber alle drei Staaten beschrit-ten den Weg zur Demokratie nur widerwillig und unterdrückten ihre nationalen Minderheiten, so dass sie von einem Minderheitenschutz, wie ihn der Völkerbund vorsah, weit entfernt blieben.
Erst als im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg die Hei-matstaaten der Donauschwaben unter den starken Druck des Dritten Reiches gerieten, machten sie ihren deutschen Minderheiten die notwendigen Zugeständnisse. Beim nun erfolgenden Ausbau zu Volksgruppenorganisationen nach NS-Muster erreichen sie Auto-nomierechte in nie gekanntem Umfang. Den Preis für diesen großen nationalen Entfaltungsspielraum mussten sie vor allem gegen Ende des Krieges zahlen. Ohne eigenes Zutun unentrinnbar in das reichsdeutsche Schicksal verstrickt, sahen sie sich angesichts der sich ab-zeichnenden deutschen Niederlage schutzlos dem Aggressions-potential der Heimatvölker ausgesetzt: ein tragisches Schicksal, das in Flucht und Vertreibung, Verschleppung und sinnloses Töten mündete. Der Verlust an Menschen von rund 20 Prozent der donauschwäbischen Gesamtbevölkerung stellt einen Blutzoll dar, wie ihn keine andere deutsche Volksgruppe zu bezahlen hatte.
Die Bezeichnung „Donauschwaben“ wurde 1922 in die Fachliteratur eingeführt und hat sich seither durchgesetzt. Die Donauschwaben stellen einen neuen deutschen Stamm dar, der sich aus der Mischung rheinfränkischer, schwäbischer, pfälzischer, bayrischer und österreichischer Elemente bildete und sich beiderseits der mittleren Donau, zwischen dem Raabfluss und dem Eisernen Tor ansiedelte. Durch Mischmundarten, Brauchtumswandel, kolo-nistische Siedlungs-, Flur- und Hausformen, neue Rechtsgrundsät-ze, eine im Barock verankerte vielgestaltige Volkskunst, schließlich durch Einflüsse eines besonderen Geschichtsablaufes, der geographischen Lage und fremdvölkischen Umwelt gewann dieser Neu-stamm im Laufe der Zeit allmählich seine eigene Identität.
(entnommen aus ‘Zwischen Bewahrung und Anpassung – Erbe und Auftrag der Donauschwäbischen Kulturstiftung‘, 5. 17 ff. Mit Genehmigung des Verlages der Donauschwäbischen Kulturstiftung, 81929 München, Schädlerweg 2. TeI./Fax 089/937793. ISBN 3-926276-06-1; erschienen 1988)